Unter dem Titel „Un-American Activities. Filme des ‚anderen Amerika‘ auf der Leipziger Dokumentarfilmwoche 1962–1989“ nimmt sich die Retrospektive in diesem Jahr einem bisher wenig beleuchteten Kapitel der Festivalgeschichte an: US-amerikanische Filme – nach damaliger Sichtweise Filme aus dem Kernland des „Klassenfeindes“ –, die in Leipzig zu DDR-Zeiten gezeigt, diskutiert und ausgezeichnet wurden. Die Filme wurden als Zeugnisse eines „anderen Amerika“ wahrgenommen, da sie sich kritisch mit dem eigenen Land auseinandersetzten und dortige Missstände wie Rassismus und soziale Ungleichheit, den Vietnamkrieg oder die antikommunistische Hysterie in der McCarthy-Ära anprangerten. Ebenso waren US-amerikanische Filme, die Arbeitskämpfe, Streikbewegungen und Stimmen einer anderen, von der Macht verdrängten Geschichtsschreibung dokumentierten, in Leipzig willkommen.
Dabei bargen diese Filme auch einiges an Sprengkraft für die Auseinandersetzung mit den eigenen Verhältnissen in der DDR. „Durchaus ließen sich manche US-amerikanischen Filme auch als kritische Interventionen verstehen gegen die tendenziell selbstgefällige Weltsicht, die in Leipzig vorgegeben wurde. Wenn sie etwa die Arroganz der Macht anprangerten, von Gefängnisrevolten berichteten oder an uneingelöste Fortschrittshoffnungen gemahnten, rührten diese Filme auch an neuralgische Punkte des SED-Staates. Ein solches Überschwappen wiederum war von einigen Entscheidungsträger*innen in Leipzig wohl auch erwünscht und gewollt. Auf keiner Seite und zu keiner Zeit lagen die Dinge eindeutig,“ so die Kuratoren der diesjährigen Retrospektive, Tobias Hering und Tilman Schumacher, die in umfänglichen Recherchen auf ein überraschend vielseitiges Spektrum kritischer Dokumentarfilme aus den USA stießen, das seinerzeit in Leipzig einem internationalen Publikum vorgestellt wurde.
„Angesichts der beispiellosen Demontage freiheitlich-demokratischer Werte unter der Regierung von Donald Trump sind heute wieder viele der damaligen Themen erschreckend aktuell“, betont Christoph Terhechte, der künstlerische Leiter von DOK Leipzig, den aktuellen Bezug des Themas. Aufgrund der Fülle der Funde entstand zwischen den Kuratoren und dem Festival die Idee, „Un-American Activities“ über das gewohnte sechstägige Angebot während der Festivalwoche hinaus zu verlängern. Die zusätzlichen, thematisch konzipierten Programme der Retrospektive werden diesmal im Luru Kino in der Spinnerei gezeigt, einem Programmkino im Leipziger Westen mit einem gewachsenen Profil für Archivprogramme. Eröffnet wird die Retrospektive dort am Wochenende vor Festivalbeginn mit einer fünf Filme umfassenden Werkschau eines der wichtigsten Protagonisten in den Filmbeziehungen zwischen der DDR und den USA: Emile de Antonio, legendärer Filmrebell im „Cold War America“, dessen Filme heute nur noch selten zu sehen sind. Im Kontrast zu dem meist als Einzelkämpfer wahrgenommenen de Antonio präsentiert das Programm nach dem Festival im Luru Kino zwei Filmkollektive: die Chicagoer Produktionsgruppe Kartemquin Films und das Newsreel-Kollektiv, aus dem die auch heute noch existierende Plattform Third World Newsreel hervorging.
Der Teil der Retrospektive, der während der Festivalwoche im CineStar 5 stattfindet, bildet das thematisch und filmsprachlich breite Spektrum ab, das die Filme aus den USA in Leipzig einbrachten. Die sechs Programme spannen den Bogen von den 1960er bis in die 1980er Jahre und widmen sich unter anderem Erzählungen über die Diskriminierung von People of Colour, mexikanischen Farmarbeitenden und Native Americans, Emanzipationsprozessen aus weiblicher Sicht oder Perspektiven auf Streikbewegungen und Kapitalismuskritik. Für die Filmgespräche zur Retrospektive werden in Leipzig die Filmemacher*innen Deborah Shaffer, Barbara Kopple, Allan Siegel, Gordon Quinn und Christine Choy erwartet. Zu Online-Gesprächen sind Robert Cohen und Jim Klein zu Gast. Außerdem wird es im Luru Kino ein filmbegleitendes Panel mit US-amerikanischen Gästen geben, das die welt- und filmpolitische Zäsur des Vietnam-Kriegs zum Thema hat.
Die Matinee Sächsisches Staatsarchiv mit dem Titel „Die Buchstadt Leipzig in Selbstbildern“ greift das diesjährige Themenjahr der Stadt auf, mit dem 2025 die Geschichte der Buchstadt gewürdigt wird. Aus seinen Beständen sächsischer Amateurfilme präsentiert das Staatsarchiv unter anderem historische Messefilme zur Internationalen Buchkunst-Ausstellung (IBA), einen Imagefilm, in dem der Börsenverein für den Kauf von Büchern wirbt, sowie Werksfilme zu Leipziger Falz- und Heftmaschinenfabriken, die historische Einblicke in die „Maschinerie“ der Herstellung und des Vertriebs gewähren.
DEFA Matinee ehrt unter dem Titel „Für Christiane Mückenberger, die Unerschrockene“ die kürzlich verstorbene Filmwissenschaftlerin, die 1990 die Verantwortung für DOK Leipzig übernahm und mit ihrem Engagement dafür sorgte, dass das Festival in der turbulenten Nachwendezeit weiter existierte. In der DDR hatte sie unerschrocken ihre Meinung vertreten und dafür 10 Jahre Berufsverbot erhalten. DOK Leipzig zeigt in der DEFA Matinee den Film „Verzeiht, daß ich ein Mensch bin. Friedrich Wolf“, der unter wesentlicher Mitarbeit von Mückenberger entstand. Der Film ist das bemerkenswerte Familienporträt des Schriftstellers und Arztes Wolf, erzählt aus der Perspektive seiner Kinder, darunter auch Markus Wolf, der viele Jahre als Chef des Auslandsgeheimdienstes der DDR agierte, sowie Konrad Wolf, einer der erfolgreichsten Spielfilmregisseure der DEFA.
Das vollständige Programm von DOK Leipzig inklusive aller Termine wird am 9. Oktober veröffentlicht. Am selben Tag startet auch der Ticketverkauf.
Terminüberblick zur Retrospektive 2025:
Emile de Antonio, die Ständige Vertretung
24.10. - 26.10., Luru Kino in der Spinnerei
Front Lines
28.10. - 2.11., CineStar 5
Collective Action
07.11. - 8.11., Luru Kino in der Spinnerei
Termine der Matineen 2025:
Matinee Sächsisches Staatsarchiv
02.11., Passage Kinos Wintergarten
DEFA Matinee
1.11., Passage Kinos Wintergarten
Die Retrospektive wird gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. DOK Leipzig dankt dem Sächsischen Staatsarchiv und der DEFA Stiftung für die Unterstützung in der Umsetzung der Matineen.